Wir sind der Sturm Read online

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  »Ich weiß, dass das verdammt schwer ist. Paul ist mein längster und vor allem bester Freund«, meinte Aiden und rieb sich über das Kinn. »Trish und ich kommen gerade auch nicht wirklich an ihn ran, mit Luca spricht er auch nicht. Nur das Nötigste.«

  »Ich bin fast gestorben vor Sorge! Er ist doch mein Freund und ich …« Ich schluckte schwer. »Er hat mich weggeschickt, falls du das vergessen haben solltest, Aiden. Euch nicht. Und ich hab keine Ahnung, wieso. Ich habe ihn vermisst. Ich habe mir unglaubliche Sorgen gemacht. Ich hatte wahnsinnige Angst, ihn zu verlieren, als uns am Anfang niemand gesagt hat, was genau eigentlich passiert ist. Und jetzt sagt er mir nicht einmal Bescheid, dass er wieder hier ist? Das … das ist doch nicht normal. Das …« Ich stockte und biss mir auf die Unterlippe, bevor ich weitersprach. »Ich geh jetzt. Ich will wissen, was los ist! Und ich möchte mit eigenen Augen sehen, dass es ihm gut geht.«

  »Lou«, sagte Aiden sanft und versuchte mich mit einem Griff an mein Handgelenk zurückzuhalten .

  Doch da schnappte ich mir schon meinen Rucksack, stopfte den Roman und das Notizbuch achtlos hinein und stürmte aus dem Firefly. Ich musste Paul sehen. Ich wollte, dass er mir sagte, was ich ihm bedeutete, und dass zwischen uns alles in Ordnung war. Einfach weil wir wir waren. Dass er bei mir bleiben und nicht verschwinden würde, obwohl er gesehen hatte, wie kaputt ich tatsächlich war. Dass ich wie immer zu viel nachdachte und mir nur einbildete, dass sein Verhalten mehr als seltsam war.

  Laut und bebend drang Musik aus der WG, als ich klingelte und niemand mir öffnete. Ich strich mir die von feinen Schneeflocken feuchten Haare aus dem Gesicht, holte tief Luft und presste meine zitternden Finger erneut auf die Klingel.

  Meistens weiß man nicht, welche Momente das Leben in ein Vorher und Nachher einteilen. Nicht sofort und schon gar nicht in dem Augenblick selbst. Wenn überhaupt, erkennt man die Zäsur erst sehr viel später. Doch manchmal spürt man es bereits in der Sekunde, in der es passiert. So wie an dem Abend meines Geburtstags, als Paul mich festgehalten und mir tief in die Augen gesehen hatte. Nasenspitze an Nasenspitze, Herz an Herz. Da hatte ich gewusst, er würde mir sagen, dass er sich auch in mich verliebt hatte. Das hier war ebenfalls einer dieser Momente – nur dass es dieses Mal eine Vorahnung war, die mein Herz noch vor meinem Verstand begriff.

  Die Musik wurde leiser gedreht, dann war das Geräusch näher kommender Schritte zu hören. Es war Isaac, der mir die Tür öffnete. Der mich ansah und anschließend einen Blick über die Schulter warf, so kurz, dass es mir fast nicht aufgefallen wäre.

  Ich wippte von einem Bein auf das andere, fragte mich, wieso er mich nicht einfach vorbei ließ.

  »Mann, wieso stehst du da wie festgefroren? Lass Luke doch einfach rein!« Der Klang seiner tiefen Stimme war so vertraut, und mein Herz reagierte sofort auf den dunklen Bass, mit dem er mich in so vielen Nächten Feuermädchen genannt hatte. Dann stand Paul in meinem Sichtfeld, vor der Wand mit den unzähligen Polaroid-Fotos, die eine Hand in der Hosentasche einer dunkelblauen Jogginghose vergraben.

  Ich blinzelte und hatte plötzlich Angst, ihn direkt anzusehen, weil seine Blicke immer schon mehr gesagt hatten als seine Worte. Ich hatte Paul in mein Herz gelassen und jetzt das Gefühl, dort drin wäre es zu eng für uns. Und als ich schließlich doch den Blick hob, ertrank ich in dem warmen, tiefen Bernsteinton seiner Augen. Da waren nur er und ich. Und dann lächelte ich ihn an – trotz aller Vorsicht. Trotz all der Warnsignale.

  Doch er rührte sich nicht von der Stelle, sah abgekämpft aus. Geschockt, beinahe schon panisch sah er mich an, den ganzen Körper angespannt. Dann verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck, und der Blick, mit dem er mich bedachte, war so kalt und leer, dass meine Knie weich wurden. Ein Schlag in den Magen, der mich für einen kurzen Moment nach Luft ringen ließ. Ganz leise sagte ich seinen Namen und streckte instinktiv eine Hand nach ihm aus, obwohl Isaac immer noch vor mir in der Tür stand. Verunsichert blickte ich Paul über Isaacs Schulter hinweg an und suchte in seinen Augen nach einer Antwort auf die Frage, die ich mich seit sechzehn Tagen nicht zu stellen traute.

  Einen Moment lang starrte er mich noch an. Etwas anderes flackerte in seinem Blick auf, als er diesen für einen winzigen Moment über mich gleiten ließ. Dann presste er seine Lippen zu einem harten, geraden Strich zusammen. Bei mir: Herzstillstand. Bei ihm: gemurmelte Flüche. Eine wirre Mischung aus Englisch und Deutsch, dann verschwand er wieder irgendwo in der Wohnung, während mir immer kälter wurde.

  »Sag ihr einfach, dass sie verschwinden soll!«, drang seine Stimme gedämpft durch die geöffnete Tür. Er klang, als hätte er getrunken. Langsame und träge Worte, völlig emotionslos ausgesprochen. Den feinen Riss in meinem Herzen, den dieser Satz gefährlich mühelos verursachte, versuchte ich, mit aller Kraft zu ignorieren. Ihr? Ich schluckte schwer. Das war ich also. Vor sechzehn Tagen Baby und heute nicht mehr als ein Pronomen.

  Ich begriff einfach nicht, was hier passierte. Ich wollte Paul anschreien. Gleichzeitig wollte ich mit meinen Fingerspitzen seine feinen Augenringe wegstreichen. Und ihn dann wieder anschreien, dass es doch sicher keine gute Idee war, zu trinken, wenn er erst seit zwei Tagen aus dem Krankenhaus zurück war. Ich wollte nichts mehr, als dass er seine Arme um mich schlang und mich festhielt. So viele Menschen hatten mich verlassen. Nicht auch noch er.

  Isaac räusperte sich, als er da zwischen mir und dieser Wohnung stand. Seine Augen hinter den Brillengläsern sagten: Sorry! Ich hab echt keine Ahnung, was los ist. Und ich stand dort wie festgefroren. »Paul, bitte. Ich …«, startete ich einen letzten verzweifelten Versuch, weil ich nur noch Gefühle und Gedanken und Emotionen war. Alles, was an mir sonst so vernünftig und bedacht war, war wie weggeblasen.

  »Gott, sie soll einfach gehen!« Seine Stimme klang wieder näher. Ein genervtes Murmeln. Diese tiefe Stimme, die ich eigentlich so liebte, deren Klang mir jetzt aber einfach nur wehtat. Sie. Beliebigkeit statt Bedeutsamkeit. Nicht nur austauschbar, sondern ausgetauscht. Ich straffte die Schultern und gab mir alle Mühe, mir nicht anmerken zu lassen, wie da etwas in mir zerbrach.

  Dann verschwand ich im Treppenhaus. Ein Schritt nach dem nächsten. Ein Fuß vor den anderen und Stufe für Stufe. Eine Stimme in mir flüsterte mir zu, dass ich nicht so leicht hätte aufgeben sollen. Dass ich Isaac zur Seite schieben und Paul mit seinem Verhalten hätte konfrontieren müssen.

  Letzten Monat noch hatte er mir versprochen, nicht zu gehen und bei mir zu bleiben, denn er kannte meine größte Angst, mein Herz an andere Menschen zu hängen und dann verlassen zu werden. Und ich hatte ihm geglaubt. Er hatte mich öfter festgehalten, als ich zählen konnte – in seinen Armen, wo ich nicht auseinanderfallen konnte. Ich hatte um Paul kämpfen müssen, weil er nicht hatte verstehen wollen, dass man kaputt sein und trotzdem lieben konnte. Und dass er das war, was ich wollte. Das, was ich brauchte.

  Sag ihr einfach, dass sie verschwinden soll, hallten seine Worte überall in mir wider. Ich war ein Kompass ohne Norden, eine Kriegerin, die nicht wusste, welchen Kampf sie eigentlich ausfocht.

  Als ich aus dem Wohnheim in die Sonne trat, fühlte es sich so an, als wäre das alles, was Paul und ich jemals sein würden: ein unvollendeter Satz, eine halb geschriebene Geschichte, fertig erzählt und doch ohne Ende.

  2. KAPITE L

  Paul

  Die Sache mit dem Glück ist schon seltsam: Dass man so richtig glücklich war, merkt man meist erst, wenn es einem längst wieder abhandengekommen ist. Doch obwohl ich mir darüber im Klaren gewesen war, dass ich weder dieses Gefühl noch dieses besondere Mädchen verdient hatte, hatte ich in jeder Sekunde gewusst, was mir das mit ihr bedeutete: echtes, unfassbares Glück. Und plötzlich war da nur noch finstere Nacht.

  »Alter, Berger, willst du jetzt oder nicht?«

  Kopfschüttelnd blickte Taylor mich an und wedelte mit einem Joint vor meiner Nase herum. Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass er mir diese Frage nicht zum ersten Mal stellte. Der wie vielte Joint war das? Der fünfte? Der sechste? Ehrlich gesagt, hatte ich längst den Überblick verloren. Letztendlich war es mir aber auch egal. Hauptsache, das Gras tat seinen Zweck und dämpf
te meine Gefühle, dämpfte diesen unerträglichen Schmerz in mir. Das Brennen in meiner Lunge, das Knistern des glühenden Papiers zwischen meinen Fingern. Und schließlich der Nebel, der sich in meinem Kopf breit machte, sich auf all meine Gedanken legte und die Stiche jeder einzelnen Erinnerung zumindest für den Augenblick abschwächte.

  Wenn nur dieses beschissene tiefe Stechen auf der rechten Seite meines Brustkorbs nicht wäre! Noch immer spürte ich es beim Ein- und Ausatmen. Eine Erinnerung an den Unfall, daran, dass eine Rippe sich in meine Lunge gebohrt hatte. Daran, dass ich an Weihnachten verdammt nochmal hätte sterben können. Eine Erinnerung an die Atemnot, daran, wie ich keine Luft mehr bekommen hatte. Verschwommene Bilder von Sirenen, eine Kanüle an meinem Brustkorb und entweichende Luft. Und letztendlich die Erinnerung an Louisa, an die Wahrheit, die mir dieser Moment so schonungslos offenbart hatte.

  Mit einem Seufzen reichte ich den Joint an Isaac weiter. Er griff danach, ohne den Blick von der Konsole und dem gerade gestarteten Spiel zu lösen. Routiniert schob er ihn sich zwischen die Lippen, während sein Avatar unter Taylors Anfeuerungsrufen auf die Gegner zustürmte.

  Ich war so benebelt! Ich hatte absolut keine Ahnung, wie die beiden sich noch auf das Spiel vor uns konzentrieren konnten, geschweige denn wie sie es schaffen wollten, sich gleich über den Campus Richtung Hörsäle zu schleppen.

  Ich rieb mir über den Bart und ließ mich tiefer in das Sofa sinken. Andererseits hatte ich meinen Mitbewohnern auch schon einige Joints voraus, weil die Albträume wieder angefangen hatten und ich deshalb lieber wach geblieben war. Gedankenspiralen in der Dunkelheit waren immer noch besser als die Bilder aus meinem Unterbewusstsein.

  Der Joint wieder zwischen meinen Fingern. Ein Zug. Noch einer. Ein Verglühen. Ich drückte ihn in dem provisorischen Aschenbecher auf dem kleinen Tisch aus – das Startzeichen für Taylor und Isaac, ihren Unikram zusammenzupacken und mit einem knappen Nicken durch die Tür zu verschwinden. Ich blieb irgendwo zwischen abgestandenem Rauch und meinen Gedanken zurück.

  Ich dachte an sie . Gott, woran auch sonst. Als ich Louisa gestern so unerwartet in der Tür hatte stehen sehen, hätte ich sie am liebsten an mich gerissen, ihr die vom Schnee feuchten Feuerlocken aus dem Gesicht gestrichen und ihr gesagt, dass alles wieder gut werden würde. Ich wollte ihr sagen, dass es mir leidtat, dass ich sie im Krankenhaus davongeschickt und verletzt, mich anschließend kein einziges Mal gemeldet hatte. Und alles in mir hatte danach geschrien, meine Lippen auf ihre weichen zu pressen und ihr zu sagen, wie sehr ich sie liebte – weil ich wusste, wie unfassbar schnell das Leben vorbei sein konnte.

  Doch ich durfte dieses Mädchen aus Feuer nicht lieben. Nicht das Mädchen, das ausgerechnet in dem Auto gesessen hatte, in das Heather und ich vor fünf Jahren hineingekracht waren. Nicht das Mädchen, dessen Dad wegen mir auf der Stelle tot gewesen ist. Nicht das Mädchen, dessen ganzes Leben sich nach dieser Nacht verändert und die dadurch gewissermaßen auch ihre Mom verloren hatte. Nicht Louisa, nicht jetzt und nicht später. Niemals.

  Sie hatte so zerbrechlich und verloren ausgesehen, wie sie da halb von Isaac verdeckt gestanden hatte, und irgendwo dahinter wütend und enttäuscht. Natürlich wusste ich, dass ich dieser Begegnung nicht ewig aus dem Weg gehen konnte – und trotzdem hatten sie und die Intensität ihres Blicks mich völlig unvorbereitet getroffen. Bei dieser Flut an Gefühlen in ihren Ozeanaugen war erneut etwas in mir kaputtgegangen. Und ich hatte tatsächlich noch gedacht, dass mein abgefucktes Herz mit dem Wissen, das ich seit Weihnachten mit mir herumschleppte, nicht noch mehr auseinanderreißen konnte.

  Ein plötzliches Klingeln ließ mich zusammenfahren. Langsam und träge kämpfte ich mich durch den Nebel zurück in das Hier und Jetzt. Es klingelte noch einmal. Wahrscheinlich hatte Isaac wieder einmal seinen Schlüssel liegen lassen. Langsam bewegte ich mich vom Sofa Richtung Tür, öffnete sie einen Spalt breit und … da schob Aiden sich schon an mir vorbei in die WG und ließ seinen Blick erst über mich, dann durch das Wohnzimmer gleiten. Das Gras auf dem Tisch, der volle Aschenbecher, die leeren Bierflaschen von gestern, die Jogginghose, die ich schon viel zu lange trug.

  »Alter, ist das dein scheiß Ernst? So sieht das also aus, wenn du aus dem Krankenhaus kommst und dich erholen sollst?«

  »Dir auch einen guten Morgen«, murmelte ich und schloss die Tür hinter Aiden. Mit großen Schritten durchquerte er das Wohnzimmer und riss die Fenster auf. Eisige Luft, die den Rauch nur langsam ablöste, drang herein.

  Aiden drehte sich wieder zu mir um und musterte mich mit gefurchter Stirn und schien mehr zu sehen, als mir lieb war. Sorge stand in seinen blauen Augen, und aus irgendeinem Grund machte mich das wahnsinnig wütend.

  »Warst du eigentlich immer schon so scheiß nervig, Cassel?«, meinte ich schroff und ließ mich wieder auf das Sofa in der Mitte des Raumes fallen. Doch Aiden zuckte ungerührt mit den Schultern. »Kann sein, Berger. Ist mir ehrlich gesagt ziemlich egal. Du hörst jetzt auf, dir das Hirn wegzukiffen, gehst unter die Dusche, ziehst dir was anderes an, und dann gehen wir zusammen raus an die frische Luft.«

  »Ganz ehrlich? Einen Scheiß werde ich tun!«, knurrte ich.

  Aiden verschränkte die Arme vor der Brust, die hellen Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. Wir starrten einander an, doch keiner sagte ein Wort.

  Bis ich schließlich das Schweigen brach. »Isaac und Taylor scheinen kein Problem damit zu haben, wie ich meine Zeit verbringe.«

  »Weil die beiden nicht dein bester Freund sind. Und dich längst nicht so gut kennen wie ich!«

  Laut lachte ich auf. »Du denkst also wirklich, du würdest mich kennen, Cassel?«

  »Du kannst meinetwegen gern weiter deine Arschlochnummer abziehen, du beeindruckst mich damit leider nur null«, erwiderte Aiden ungerührt. »Mit siebzehn warst du ein richtiger Wichser und bist mich auch nicht losgeworden. Also beweg jetzt endlich deinen Arsch, bevor ich Trish anrufe, damit sie mir hilft! Und du weißt, dass sie im Gegensatz zu mir ununterbrochen reden wird.«

  Gott, es war wirklich zum Lachen. Aiden, der als einziger Mensch wusste, was tatsächlich passiert war, als ich mit Heather auf dem Rückweg von Sacramento gewesen war … Dem ich ein einziges Mal erzählt hatte, was sich in dieser schrecklichen Nacht abgespielt hatte, dem gegenüber ich mich wie ein riesiges Arschloch benommen hatte und der trotzdem immer für mich da gewesen war – so lange, bis ich den Anblick meines Spiegelbildes wieder hatte ertragen können. Ausgerechnet er war es, der jetzt wieder versuchte, mich aus dem Loch zu holen; dabei hatte er ja keine Vorstellung davon, wie schlimm es dieses Mal tatsächlich war.

  »Außerdem könntest du dich mal wieder rasieren. Du siehst aus wie eine komische Hipster-Version von dir selbst!«, rief Aiden mir hinterher, als ich mich fluchend Richtung Bad in Bewegung setzte. Ich hielt meinen Mittelfinger in die Höhe, doch er lachte nur.

  Mit jeweils einem Becher Kaffee in der Hand stiegen wir Stufe für Stufe nach oben. Aiden entschlossen, ich widerwillig. Meine ungesagten Worte hallten als Stille von den Wänden des Treppenhauses wider. Wenn man Glück hatte, war die Tür zum Dach nicht abgesperrt – so wie heute. Ein Schritt nach draußen. Kalter Wind zerrte an meiner Jacke. Noch ein Schritt. Ich atmete tief ein und aus. Dank des endlosen Himmels über mir fühlte ich mich für einen Moment frei, dank der Höhe des Wohnheimgebäudes klein, doch meine Fehler waren es nicht.

  Schweigend setzten wir uns nebeneinander direkt an die Kante des flachen Daches. Unsere Beine ließen wir vom Rand baumeln. Schwarze, zerschlissene Jeans an ausgewaschener blauer. Ich würde verflucht tief fallen, sollte ich ein Stück nach vorn rutschen. Es würde aussehen wie ein tragischer Unfall: Ein Kerl, der sich selbst überschätzt hatte und zu risikobereit gewesen war. Seit fünf Jahren balancierte ich ohnehin am Rande des Abgrunds, doch in diesem Augenblick dachte ich zum ersten Mal daran, mich selbst hineinzustürzen.

  Aiden zog sein Handy aus der Hosentasche und legte es mit dem Display nach oben zwischen uns. Aus dem Lautsprecher drangen die ersten Takte von Minimum von Charlie Cunningham. How should I walk this Earth . Ich schluckte, weil das eine verflucht gute Frage war. Und dennoc
h schafften es die weichen Beats, meine düsteren Gedanken zusammen mit dem eisigen Wind ein Stückchen davonzuwehen. Das war einer dieser Songs, die begannen einen davonzutragen mit Flügeln aus Rhythmus und Noten. Immer höher, immer weiter, mitten hinein in die undurchdringliche Wolkendecke, näher heran an die Unendlichkeit des Himmels. Für einen Moment schloss ich die Augen, spürte den Wind durch meine Jacke dringen, dann sah ich mich da oben zwischen den Wolken. Sie zogen vorbei, und ich wollte die nächste fangen. Gott, Aiden hatte recht: Ich war wirklich ziemlich stoned.

  Die Musik breitete sich zwischen uns aus, während ich meinen Blick über den schneeweißen Campus unter uns schweifen ließ: Die anderen Wohnheimgebäude und Studenten, die mit Kaffeebechern zu ihren Vorlesungen eilten, in denen Aiden und ich eigentlich auch bald sitzen sollten. Bunte Farbkleckse, Punkte, die allein oder in Gruppen auf die einzelnen Fakultäten und die Bibliothek zuströmten. Es hatte etwas Friedliches, wie alles in dieses sanfte Weiß gehüllt unter unseren Füßen dalag. Aiden und ich so weit über dem Campus, dem Himmel so nah, doch verschwindend klein und unbedeutend – das perfekte Motiv für ein Foto, doch selbst das war mir in diesem Moment egal.

  »Haben Lou und du gestern eigentlich geredet?«, wollte Aiden plötzlich wissen.

  Ich nickte. Louisa und ich hatten geredet, wenn auch nicht miteinander. Sie hatte etwas gesagt, ich hatte etwas gesagt. Es war eine Wahrheit mit Leerstellen, die Aiden wohl erahnte, denn es bildete sich diese feine Falte zwischen seinen blauen Augen.

  »Wieso hast du Lou nicht gesagt, dass du wieder hier bist?«, hakte er nach. Unnachgiebig.

  Ich schluckte schwer. »Ich will wirklich nicht drüber sprechen, Cassel!«, wich ich meinem besten Freund aus. »Ich kann gerade einfach nicht, okay?«, schob ich hinterher, weil ich mich ihm gegenüber wieder einmal so ungerecht verhielt. Aiden griff nach seinem Kaffee und, obwohl verdammt offensichtlich war, dass das nicht die Antwort war, die er hatte hören wollen, gab er sich mit einem Seufzen geschlagen. Er erzählte mir von dem Zoff bei Goodbye April – natürlich wegen einer Frau, weshalb auch sonst, von seiner Schwester Ally, die scheinbar das erste Mal so richtig verliebt war, und ihrem Freund, dem Aiden als großer Bruder natürlich erst mal wahnsinnig skeptisch gegenüberstand, bevor er mich an Bowies Geburtstag übernächste Woche erinnerte. Mit einem belustigten Blitzen in den Augen erwähnte er, dass Trish angekündigt hatte, mir höchstpersönlich den Kopf abzureißen, sollte ich mich weiter verkriechen, statt im Heaven aufzutauchen. Und bei dem Gedanken an den blonden Zwerg schlich sich das seit Tagen erste ehrliche Lächeln auf meine Lippen. Nicht eines von den Falschen, hinter denen ich inzwischen so viel verborgen hielt.