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Wir sind der Sturm Page 6


  Kurze Stille und gedimmtes Licht. Ein Nicken zwischen Aiden und Paul, ein Grinsen und dann der Anfang einer sanften, rhythmischen Melodie. Ohne Ankündigung oder weitere Erklärung begannen die beiden, für sie zu singen. Pauls dunkle, raue Stimme, die nach wie vor eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper verursachte, und Aidens, die eine winzige Nuance tiefer war. Natürlich spielte er deutlich besser Gitarre als Paul, doch das fiel kaum auf, weil die beiden die Melodie perfekt untereinander aufgeteilt hatten und das bei der Selbstsicherheit, die Paul ausstrahlte, ohnehin unwichtig erschien. Die dunklen Haare fielen ihm auf die vertraute Art immer wieder ins Gesicht, wenn er einen Blick auf die Saiten warf, über die seine großen Hände strichen. Und dann war da das schwarze Shirt, das seine Muskeln erahnen ließ. Die zahlreichen dunklen Linien seiner Tätowierungen, die für mich längst nicht mehr Bilder auf seiner Haut waren – inzwischen sah ich die Geschichten hinter jedem einzelnen Strich.

  Schnell wandte ich den Blick ab, konzentrierte mich stattdessen auf Aiden, meinen Fixpunkt, um das Chaos in mir zum Schweigen zu bringen.

  Als nach den ersten gesungenen Zeilen klar war, dass das nicht irgendein Lied war, sondern eines, das Aiden scheinbar eigens für Bowie geschrieben hatte, begann es schließlich endgültig, aus ihren Augen zu regnen. Es handelte von ihr, von ihrer großen Klappe, dem Bad Chick in ihr, ihrer liebenswerten Art, den Sprüchen auf ihren Shirts, von der Tatsache, dass sie immer so furchtlos zu sein schien und dann wieder wie ein Kind. Es war ein Text, der berührte und gleichzeitig zum Lachen brachte, der einfach absolut ehrlich war.

  Bowie stand zwischen Trish und mir, wir drei Hand in Hand in Hand. Und noch bevor der letzte Ton verklungen war, sprang sie auf die flache Bühne, fiel erst Aiden um den Hals …

  Paul

  … dann mir und ich hob sie grinsend nach oben, wirbelte sie mit dem wehenden Rock durch die Luft, bis sie mich lachend aufforderte, sie wieder herunterzulassen. Von der Bühne aus warf ich dem blonden Zwerg, der sich mit seinen kleinen Fäusten immer beschwerte, sobald ich ihn packte, einen eindeutigen Blick zu, doch Trish streckte mir nur kopfschüttelnd die Zunge raus. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte mein Blick neben sie. Louisa mit leicht geröteten Wangen in einem kurzen dunkelblauen Kleid, das weiß Gott fast die Farbe ihrer Augen hatte. Scheiße, ich musste echt aufhören, sie ständig so anzusehen. Ich hatte absolut kein Recht dazu. Nicht mehr.

  Bowie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte Aiden und mir einen kurzen Kuss auf die Wange, und in diesem Moment war ich wirklich so verflucht froh, dass ich mich von Aiden dazu hatte überreden lassen, hier mitzumachen. Bowie strahlte über das ganze Gesicht und drückte Aiden und mich ein weiteres Mal an sich.

  Mir war bewusst, dass ich mich ihr und den anderen gegenüber momentan die meiste Zeit über viel zu abweisend benahm, obwohl Freundschaft und Loyalität für mich immer wichtig gewesen waren. Und genauso wusste ich, dass Aiden, Trish und Bowie mein Verhalten Louisa gegenüber mehr als kritisch sahen – weil sie nicht eine von vielen Frauen in meinem Leben war, sondern inzwischen eine von uns. Aber dass sie sich bisher nicht offensichtlich auf eine Seite geschlagen hatten, zeigte nur, was für gute Freunde die drei tatsächlich waren – etwas, das ich ihnen momentan im Gegenzug kein Stück war. Doch mit Aiden für Bowie zu singen, hatte ihnen vielleicht zeigen können, dass sie alle mir wichtig waren, auch wenn mir alles andere im Moment ziemlich egal zu sein schien.

  Die Musik wurde wieder laut aufgedreht, und Aiden und ich sprangen von der Bühne und steuerten zusammen mit Bowie die Bar an. Eine Runde Shots, um auf sie anzustoßen. Dann eine zweite und eine dritte. Dreimal den Kopf in den Nacken legen und Schnaps, der den Rachen mit einem angenehmen Brennen hinunterlief. Anschließend noch ein Drink mit klirrenden Eiswürfeln, um mich davon abzuhalten, mich umzudrehen und den Club mit den Augen nach Louisa abzusuchen.

  Louisa

  Es war wie Magnetismus. Sofort fand mein Blick in dem flackernden Licht Paul, obwohl ich ihn gar nicht gesucht hatte. Mit einer Hand in der Tasche seiner verwaschenen Jeans und einem Drink in der anderen stand er entspannt gegen die Bar gelehnt da. Er sah müde aus mit den feinen Ringen unter den Augen und trotzdem viel zu gut, als er seinen Kopf leicht in den Nacken legte und sein entwaffnendes Lachen lachte. Wegen der dröhnenden Beats hörte ich es nicht, sah nur das Kräuseln seiner Lippen, doch in meinem Kopf erklang es. Jede einzelne Nuance davon.

  Auf den Barhocker neben ihm hatte sich gerade ein Mädchen mit langen blonden Haaren und tiefrot geschminkten Lippen gesetzt. Sie beugte sich zu ihm. Viel zu nah, viel zu vertraut. Und sie fiel in sein Lachen ein, nachdem er noch etwas zu ihr gesagt hatte. Der Anblick ihrer Hand auf seinem muskulösen Unterarm mit den tätowierten Bildern ließ mich schlucken. Auf dem Wasserfall, den Tannen, dem schattierten Himmel dahinter. Stechende Leere in meinem Bauch .

  Das war der Paul Berger aus den Erzählungen. Der Paul, der den Geschichten gerecht wurde, die ich seit meinem ersten Tag auf dem Campus über ihn gehört hatte: der Herzensbrecher, der jede haben konnte, der Bad Boy, den niemand halten konnte, der Player, dem die Frauen nur so hinterherliefen, und der Mann, der niemandem gehörte – zumindest nicht richtig und vollkommen. Der zu viel trank, auf zu viele Partys ging – immer mit einer anderen Frau an seiner Seite. Und seit er beschlossen hatte, dass ich nicht mehr Teil seines Lebens war, hatte ich zu viele von ihnen gesehen. Jede Einzelne hing an seinen Lippen und seinem Grinsen, hing an ihm , genauso wie mein dummes Herz es getan hatte und immer noch tat. Und obwohl ich diese und ähnliche Szenarien viel zu oft direkt vor meinen eigenen Augen sah, obwohl ich so viel mehr mitbekam, als ich wollte, und es jedes Mal ein unerträglicher Stich war …Tief in mir konnte ich einfach nicht vergessen, wie es zwischen uns gewesen war. Wie es war, von Paul geliebt zu werden. Keine einzige Erinnerung an die Zeit mit ihm konnte ich auslöschen, so sehr ich es mir in genau solchen Momenten auch wünschte. Und nach wie vor suchte ich nach einer Erklärung, wieso von einem Moment auf den anderen plötzlich alles anders gewesen war.

  Mit einem selbstsicheren Lächeln lehnte das Mädchen sich gegen Paul und strich ihm die dunklen Haare, die ihm in die Stirn gefallen waren, aus dem Gesicht, verharrte mit der einen Hand viel zu lange dort und streifte dabei wie zufällig seinen Bart. In mir zog sich alles schmerzhaft zusammen, als Pauls Mundwinkel zuckten, bis schließlich das Lächeln mit den Grübchen seine Lippen umspielte. Ich wandte mich ab.

  Bowie, die meinen Blicken gefolgt war, schloss wortlos ihre Finger um meine und zog mich bestimmt mit sich in Richtung Tanzfläche – weg von ihm, Hauptsache weg. Eine in flackerndes Licht getauchte, tanzende Menge zwischen Paul und mir. Eine Trennwand aus warmen Körpern.

  Für Bowie versuchte ich zu lachen, schließlich war das hier ihr Geburtstag und sie sollte Spaß haben, statt sich um mich kümmern zu müssen. Fast eine Stunde lange bewegte ich mich zusammen mit ihr und einem aufgesetzten Lächeln, das sich mehr anfühlte wie eine Grimasse, im Takt der Musik. Darum bemüht, den Rhythmus wie sonst auch in den Bewegungen meines Körpers zu spüren und einfach nur den Moment zu leben. Ich ging mit Aiden nach draußen an die frische Luft und genoss die kalte Nachtluft auf meiner vom Tanzen erhitzten Haut, lachte zusammen mit Isaac, als Luke unermüdlich eine Freundin von Bowie angrub, die laut ihr absolut nicht auf Männer stand, und schickte Mel, die leider nicht hatte kommen können, zusammen mit Trish ein verwackeltes Video mit schlechtem Ton, auf dem man fast nichts erkannte. Trotzdem schrieb sie uns sofort zurück und wünschte uns eine magische und weltenverändernde Nacht.

  »Sie ist wirklich deine Schwester«, grinste Trish, als sie die schönen Wörter las.

  Doch es half alles nichts. Nachdem ich mich zusammen mit Trish durch all die tanzenden Leute zurück zu Bowie geschoben hatte, wanderte mein Blick immer wieder zu Paul und dem blonden Mädchen neben ihm. Bei jeder Lücke, die sich zwischen den Tanzenden ergab. Bis zu dem Moment, in dem ich es einfach nicht mehr aushielt und alles in mir danach schrie, ihn endlich zur Rede zu stellen. In mir war die Fülle meiner ungesagten Worte kurz vor dem Überlaufen.

  Die Fülle meiner ungesagten Worte , hallte es
in meinem Kopf nach. Wieso war der Klang dieser fünf Worte so magisch? Wieso hätten sie der Titel eines tragischen und zugleich wunderschönen Romans sein können, der erst noch geschrieben werden musste?

  Es war genau das passiert, vor dem ich mich von der ersten Sekunde an am meisten gefürchtet hatte: Dass ich mein Herz an einen Menschen hing, nur um von diesem dann zurückgelassen zu werden. Keine Sekunde länger würde ich mir das ansehen. Die letzten beiden Wochen hatte ich mich, was Paul anging, wie gelähmt gefühlt – was wohl hauptsächlich an seinem Autounfall und meinen eigenen wieder hochgekommenen Erinnerungen gelegen hatte, doch jetzt reichte es. Ich hatte mich vor diesem Mann völlig entblößt – auf tausend verschiedene Arten. Er hatte mir geschworen, dass er mich nicht zu seinem Spielzeug machen würde, doch genau das hatte er getan.

  »Lou, warte!«, schrie Bowie gegen die Musik an und legte eine Hand an meinen Oberarm. Ihr Blick zuckte Richtung Bar, dann wieder zurück zu mir.

  »Ich glaube nicht, dass das eine besonders gute Idee ist!«, sagte jetzt auch Trish und fuhr sich unruhig durch ihre Haare, die sich über ihren Rücken wellten.

  Ich biss mir auf die Unterlippe, gab mir selbst noch eine Sekunde Zeit. »Bitte«, sagte ich dann leise. »Ich drehe echt durch, ich muss da hin! Jetzt sofort!« Die Bässe vibrierten an den Wänden, wahrscheinlich hatten die beiden gar nicht verstanden, was genau ich gesagt hatte. Doch trotzdem und obwohl ich die Sorge in ihren Augen sah, nickte schließlich erst Trish, dann Bowie. Ihre Lippen, die ein lautloses Okay formten. Ich strich mir also das Kleid glatt und setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Ein Slalom durch schwitzende Körper, um Platz kämpfende Ellenbogen und stickige Luft. Einen ruhigen Schritt nach dem nächsten, doch am liebsten wäre ich gerannt – zu dem Mann mit dem Sturm in den Augen und gleichzeitig so weit wie möglich vor ihm davon.

  5. KAPITEL

  Louisa

  Mein Kopf war voller Wörter, doch ich spürte nur die Leere zwischen ihnen und wusste plötzlich nicht mehr, zu welchen Sätzen ich sie zusammensetzen sollte.

  Mit einem leichten Stirnrunzeln betrachtete das Mädchen neben Paul mich und warf sich das glatte Haar über die Schulter. Ihr Blick wanderte zwischen ihm und mir hin und her. Ein letztes Mal strich sie mit ihrer Hand langsam über seinen Unterarm, bevor sie sich wortlos erhob und ihm ein letztes Mal in die Augen sah. Ich musste schwer schlucken, weil es so wahnsinnig offensichtlich war, was sie sich von ihm erhoffte. Paul musterte mich und meine zu Fäusten geballten Hände, eine steile Falte zwischen den dunklen Augen, die mich nicht mehr ansahen, als wäre ich seine ganze Welt. Es tat weh, es tat so unfassbar weh. So viel mehr als meine Fingernägel, die sich in meine Handinnenflächen bohrten.

  »Louisa«, sagte er gedehnt und musterte mich ausdruckslos. »Was willst du?«

  Instinktiv verschränkte ich die Arme vor der Brust, als könnte ich mich so vor der Art, wie er mich ansah, schützen. Versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr es schmerzte, ihn so zu sehen. Mit ihr. Mit all diesen Frauen. Ein Blick in seine bernsteinfarbenen Augen. Wir waren das Feuer gewesen, ein Funken, der so schnell und unaufhaltsam so viel mehr geworden war – zumindest in meiner Welt. Doch jetzt war da nur noch ein alles mit sich reißender Sturm.

  »Ich will mit dir reden«, erwiderte ich fest .

  »Hier?«, lachte Paul auf und schwenkte das Glas in seinen Händen hin und her. Immer wieder stieß das Eis klirrend gegen den Rand.

  »Dieser Ort scheint mir genauso gut zu sein wie jeder andere«, erwiderte ich und reckte ihm das Kinn entgegen, machte mich größer, als ich war. »Und es ist ja nicht so, als hätte ich sonderlich viele Möglichkeiten gehabt, an einem anderen Ort mit dir zu reden. Du ignorierst meine Nachrichten, du ignorierst mich . Gehst mir aus dem Weg und weichst mir aus!«

  »Schon mal auf die Idee gekommen, dass ich vielleicht einfach keine Lust habe, zu reden?« Ein spöttisches Lächeln. Mit einem Brennen entwich meinen Lungen Luft, die ich bei diesem Satz unbewusst angehalten hatte. Ich legte eine Hand auf meinen Bauch, als würde die Übelkeit dadurch weniger werden. Und dann war da Stille, obwohl Musik und Bass aus den Lautsprechern mir durch den ganzen Körper fuhren. Mit einem Mal war mein Mund ganz trocken.

  »Machst du das mit Absicht, Paul? Tust du mir mit Absicht weh?«, fragte ich ernst und hätte die Worte im nächsten Moment am liebsten sofort wieder zurückgenommen, weil sie mich so wahnsinnig verletzlich machten. Doch wie immer in seiner Gegenwart war mein Mund einfach übergelaufen. Andererseits wollte ich zu meinen Gefühlen stehen. Zu lange war ich davongerannt, sobald etwas nur im Ansatz kompliziert geworden war. Und ich würde ganz sicher nicht dabei zusehen, wie Paul sich wie ein riesiges Arschloch benahm, auf meinem Herzen herumtrampelte, ohne sich auch nur ein einziges Mal dafür rechtfertigen zu müssen. Nicht nachdem er einen Teil meiner Mauern niedergerissen und anschließend hinter all meine Fassaden geblickt hatte.

  Ich weigerte mich, als Erste wegzusehen, als unsere Blicke sich ineinanderbohrten. Ich sah das Tosen in seinen Augen, dunkler und zerstörerischer als jemals zuvor, und zum allerersten Mal machte mir der darin wütende Sturm … Angst. Paul machte mir Angst.

  Erschrocken von dieser Erkenntnis wich ich einen Schritt vor ihm zurück, doch er setzte nur in aller Ruhe das Glas an die Lippen und legte den Kopf in den Nacken, um es mit einem Zug zu leeren – als wäre nichts. Als wären meine Worte nicht gewesen. Ich zuckte zusammen, als das leere Glas mit einem leisen Klirren auf der Bar landete.

  »Was hat sich seit Weihnachten verändert?«, startete ich einen neuen und letzten Versuch. Bemühte mich um einen ruhigen Tonfall, auch wenn mein Herz in diesem Augenblick schrie und tobte. Es schien eine halbe Ewigkeit her zu sein, da hatte Trish mir erzählt, dass es bei Paul immer eine Geschichte und eine andere Wahrheit gab. Es war das, was er mir schuldete.

  »Ich hatte so wahnsinnig Angst um dich, Paul«, sagte ich aufrichtig, und die Erinnerung an ihn in dem Krankenhauszimmer mit diesem Schlauch zwischen den Rippen, der Luft aus seiner Lunge pumpte, schnürte mir auch jetzt noch die Kehle zu. »Und ich habe versucht, es zu akzeptieren, als du mich nicht bei dir haben wolltest, weil ich dir versprochen habe, dir zu vertrauen … dir auch dann zu vertrauen, wenn ich nicht alles über dich weiß. Aber wie du mich behandelst, seit du wieder hier bist … Ausgerechnet du, der weiß, wie es in mir aussieht und was meine Ängste sind. Du … du bist mein Freund. Warst mein Freund«, verbesserte ich mich stockend, weil Paul sonst nicht vor meinen Augen mit anderen Frauen rummachen würde. »Was soll dieser ganze Scheiß also?«

  Von Wort zu Wort war meine Stimme lauter geworden, und mit den Fingern strich ich in einer fahrigen Bewegungen durch meine Locken, bevor ich das aussprach, was ich tatsächlich dachte: »Liegt es daran, dass du immer noch der Meinung bist, du hättest mich nicht verdient? Zerstörst du das mit uns absichtlich selbst, bevor es auf eine andere Art kaputt gehen kann? Ist das wieder einer deiner seltsamen und absolut bescheuerten Versuche, mich vor dir selbst oder sonst etwas zu beschützen?« Ich holte tief Luft und als ich weitersprach, konnte ich den Sarkasmus in meiner Stimme nicht länger verbergen. »Denn wenn dem so ist, dann herzlichen Glückwunsch, Paul. Du bist gerade wirklich richtig gut darin, mich endgültig zu verlieren.«

  Ein Gefühl und ein Ausdruck flackerten über Pauls Gesicht. Beides etwas, das ich nicht greifen konnte.

  Doch schon im nächsten Moment fuhr er herum, und dieses Mal stand alles verzerrende Wut in seinen dunklen Augen. »Gott, Louisa, du willst es einfach nicht kapieren, oder?«, spuckte er mir die Worte beinahe schon entgegen. »Das mit uns, das ist vorbei, okay? Das hier ist keine deiner Liebesgeschichten, in denen es für alles irgendwelche Erklärungen gibt. Es ist schlicht und einfach vorbei!«

  Ich spürte, wie mein Mund sich erst öffnete und dann wieder schloss. Kein Wort, kein Ton verließ meine Lippen. Jemand quetschte sich an mir vorbei an die Bar, brachte mich mit dem Ellenbogen fast zum Stolpern. Aber ich fühlte nichts, sah Paul nur fassungslos an. Nach seinem Verhalten der letzten Wochen waren seine Worte keine Überraschung, und doch rissen sie mir den Boden unter den Füßen weg. Und ich fiel in absolute Leere; es
gab nichts, woran ich mich festhalten konnte.

  »Lass mich verdammt nochmal endlich in Ruhe!«, schob er genervt hinterher.

  Glassplitter bohrten sich in mein Herz.

  »Aber … wir lieben uns. Wir …«

  Wir lieben uns. Schon in der nächsten Sekunde bereute ich diesen ausgesprochenen Satz, als Paul eine Augenbraue hob und mich emotionslos ansah. »Kerle tun viel, um eine Frau ins Bett zu kriegen. Und sagen viel, um das zu bekommen, was sie wollen. Das ist keine scheiß Liebe, Louisa, und das war es auch nie.«

  Jedes einzelne Wort begann, sich eiskalt in mir auszubreiten. Luft, nach der ich mit einem Mal rang. Doch ich machte einen Schritt auf ihn zu statt weg, wie ich sollte. So als könnte ich mich auf meine Zehenspitzen stellen und ihm den Mund zuhalten, damit ich diese Dinge nicht mehr hören musste. Oder ihn auch einfach nur küssen, weil ich so vielleicht für ein paar Sekunden vergessen würde, dass sich das zwischen uns beiden mit einem Mal so unfassbar kaputt und endgültig anfühlte.

  Schnell schob ich den Gedanken beiseite. »Ist das dein Ernst?«, zischte ich, bevor ich etwas tat, das ich im Nachhinein bitter bereuen würde. »Willst du mir gerade sagen, dass du mich einfach nur ficken wolltest? Dass ich einfach nur eine schnelle Nummer für dich gewesen bin?«

  Meine Stimme begann, sich zu überschlagen, denn es war so viel leichter, sich auf die Wut in mir zu konzentrieren statt auf den Schmerz. Wild und ungefiltert wirbelten meine Gedanken durcheinander, weil das einfach unmöglich stimmen konnte. All die Gespräche, all die geteilten Wörter und Nächte! Wie er mir immer wieder vorgelesen hatte. Den Phönix, den er mir gezeichnet hatte. Wie er mich vor dem Auseinanderfallen bewahrt hatte, als meine Mutter mir kurz vor Weihnachten geschrieben hatte. All die großen und kleinen Dinge. War ein Mensch in der Lage, so viel vorzuspielen?