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Wir sind der Sturm Page 4


  Trish unterbrach mich kein einziges Mal, riss nur ungläubig die Augen auf, als ich fertig war. »Er hat was gesagt?«, hakte sie empört nach.

  Und weil die Erinnerung genauso wehtat wie der Moment selbst, musste ich schwer schlucken, bevor ich ihr antworten konnte. »Paul hat gesagt, dass ich verschwinden soll«, wiederholte ich seine Worte leise und blickte Trish fest in die Augen. »Wobei das nicht einmal wirklich stimmt«, gab ich schließlich noch leiser zu, »eigentlich hat er mir über Isaac ausrichten lassen, dass ich verschwinden soll, obwohl ich nur ein paar Meter von ihm entfernt stand.«

  Mit zusammengekniffenen Augen musterte Trish mich, bis ihr schließlich ein langes Seufzen entwich. Ein Kopfschütteln. Sie wusste nur zu gut, wie ich mir nach dem Unfall nächtelang die Augen aus dem Kopf geweint hatte, weil ich mir so große Sorgen um Paul gemacht hatte. Weil er gestorben wäre, wenn der Krankenwagen nicht so schnell da gewesen wäre. Weil ich den Fehler bei mir selbst gesucht hatte, den Grund, wieso er mich nicht bei sich haben wollte. Trish hatte die ersten beide Nächte bei mir im Bett geschlafen. Ich in Pauls Redstone-College-Hoodie, den ich getragen hatte, als er mich kurz vor Weihnachten zurück in die WG gebracht hatte. Der Geruch nach Wald und ihm hing immer noch darin. Trish und ich, wir beide in der Dunkelheit, die Gesichter einander zugewandt. Und mit leiser Stimme hatte sie mir immer wieder versichert, dass alles gut werden würde. Dass Paul sich erholen würde. Dass er vor einigen Jahren schon einmal einen Autounfall gehabt hatte und ihm das alles vielleicht schlimmer erschien und er deshalb so seltsam reagierte.

  »Ich kapier echt nicht, was jetzt plötzlich sein scheiß Problem ist«, sagte sie frustriert und knallte ihren Matcha Latte auf den Tisch. Klirren von Glas auf Holz. »Mir ist selbst schon aufgefallen, dass er richtig seltsam drauf ist. Am Dienstag hab ich ihn kurz gesehen, und da war er super mürrisch und wortkarg. Mann, hätte ich irgendeine Ahnung, was los ist, würde ich es dir sofort sagen, Lou!«

  »Mürrisch ist eine wirklich nette Umschreibung«, murmelte ich. Der Gedanke an seinen emotionslosen Gesichtsausdruck versetzte mir auch jetzt einen schmerzhaften Stich.

  »Ich hoffe, du hast ihm gesagt, dass er sich wie ein verdammtes Arschloch aufführt!«, erwiderte Trish, die von Minute zu Minute aufgebrachter aussah.

  Ich schüttelte den Kopf. »Wie denn?«, sagte ich leise. »Er geht mir aus dem Weg, er ignoriert mich. Und das alles völlig aus dem Nichts.« Ich schluckte. »Ich bin so wahnsinnig wütend, weil ich das alles einfach nicht verstehe. Vielleicht will auch ein Teil von mir es einfach nicht verstehen, weil die Wahrheit zu sehr wehtun würde …« Ich zögerte und sprach anschließend weiter: »Und ich bin einfach so enttäuscht, weil ich das Gefühl habe, mich wahnsinnig in Paul geirrt zu haben.«

  Nachdenklich spielte Trish mit einer Strähne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, den Blick ihrer grauen Augen für einen Moment in die Ferne gerichtet, als gäbe es da etwas, das sie mir gerne mitteilen wollte, jedoch nicht konnte.

  »Du musst gar nichts dazu sagen«, meinte ich vorsichtig. »Ich weiß, wie eng ihr zwei befreundet seid, und ich will wirklich nicht, dass du dadurch in eine komische Situation gebracht wirst und am Ende zwischen den Stühlen stehst.« Und auch wenn das Gesagte wahr und mir scheinbar so leicht über die Lippen gekommen war, befürchtete ich doch, dass sie und Aiden am Ende doch zu Paul halten würden – schließlich waren die zwei schon seit Ewigkeiten mit ihm befreundet. Mich kannten sie hingegen noch nicht einmal ein halbes Jahr.

  Doch Trish lehnte sich nach vorn und drückte meine Hand. Ihre lackierten Nägel ein helles Pink, meine ein dunkles Blau. »Hör mal, Süße: Erstens kann ich durchaus mit euch beiden befreundet sein. Und zweitens: Wenn Paul sich mal wieder wie ein Arschloch benimmt und nicht damit rausrückt, was gerade eigentlich sein dummes Problem ist, dann werde ich ihm genau das sagen. Klar hast du recht, und ich sollte mich da so gut es geht raushalten, weil das eine Sache zwischen euch beiden ist, aber …«, Trish holte Luft und kniff ihre Augen gefährlich zusammen, »… sollte Paul dir das Herz brechen, dann kann er sich echt was von mir anhören! Dann ist es mir wirklich egal, wie lange wir schon befreundet sind, weil du mir genauso wichtig bist. Und so oder so kannst du mir immer alles erzählen! Dafür hat man doch eine beste Freundin, oder?«

  Sie zwinkerte mir zu, und all den negativen Gefühlen zum Trotz brachte Trish mich damit zum Lächeln: mit ihrer Ehrlichkeit, ihrer Direktheit und ihrer Inbrunst. So lange hatte ich geglaubt, einsam zu sein, und in diesem Moment merkte ich wieder einmal, wie wenig das stimmte. Tatsächlich einsam war man erst, wenn es niemanden mehr gab, mit dem man seine Gedanken teilen konnte.

  »Danke«, sagte ich schlicht. Ein Wort und tausend Bedeutungen.

  »Ich bin dein Sam, und du bist mein Frodo!«, erklärte Trish da. Und sie klang feierlich, als sie das sagte und dabei ihre Schultern straffte.

  »Ähm«, ich räusperte mich, »ich will unter gar keinen Umständen dein Frodo sein. So sehr ich Herr der Ringe liebe, Frodo ist einfach nur furchtbar nervig!«

  Trishs Mundwinkel zuckten, und ich erahnte das Grinsen, das sie hinter dem Matcha Latte in ihren Händen zu versteckten versuchte.

  »Lass mich Sam sein«, meinte ich.

  Einen Moment noch versuchte Trish, ernst zu schauen, dann schüttelte sie lachend den Kopf. Der blonde Zopf rutschte ihr dabei von der Schulter. »Sorry, Lou, aber ich will auch kein Frodo sein!«

  »Dann sind wir eben zwei Sams. Das ist sowieso viel cooler«, schlug ich vor und lächelte das Mädchen an, das so bedingungslos zu mir zu halten schien.

  Eine halbe Stunde alberten wir noch herum, beobachteten die Leute, die vor dem Fenster an uns vorbeiliefen. Ein Stummfilm, dessen Untermalung unsere Gespräche waren. Dann holte Trish erst ihren Laptop, dann ihre Bücher heraus, legte eins nach dem anderen auf den Tisch, um sich an den ersten von zwei Essays zu setzen, die sie nächste Woche abgeben musste. Staubige Seiten aus der Bibliothek kitzelten mich für Sekunden in der Nase. Daneben meine eigenen dicht beschriebenen Seiten. Zahlen über Zahlen.

  Inzwischen waren die Ergebnisse der Midterms online. Leider hatte ich Probability Theory wie befürchtet nicht bestanden und deshalb jetzt einiges nachzuholen. Und auch wenn ich ansonsten zufrieden mit meinen Ergebnissen war, nahm dieser eine Gedanke immer mehr Raum in mir ein. Der Gedanke, vielleicht doch mein Hauptfach zu wechseln, mich zumindest umzusehen. Denn inzwischen war mir klar, dass ich Literatur als Rettungsanker nicht verlieren würde, sollte ich es studieren. Es wäre nur anders, nicht unbedingt schlechter. Ich dachte an den Tag, an dem Paul und ich uns im Magic Ink hatten tätowieren lassen und er mir danach beim Essen erzählt hatte, dass ich einen eigenen Gesichtsausdruck hatte, wenn ich über Literatur sprach. Als er mir gesagt hatte, dass er an mich glauben und ich meinen Weg finden würde.

  Und meine Gedanken drifteten ab, von meinem Studium zu ihm. Jedes Wort und jeder Satz waren ein Bumerang, der egal, was ich tat, wieder bei ihm und dem Blick aus seinen bernsteinfarbenen Augen endete.

  In den nächsten zwei Stunden starrte Trish abwechselnd in ihre Bücher und tippte an ihrem Essay. Hochkonzentriert und am Ende des Stifts kauend, mit dem sie sich nebenbei auch noch Notizen machte.

  Ich gab mein Bestes, versuchte mich abzulenken und nicht immer wieder meine letzte Begegnung mit Paul in Gedanken durchzugehen. Doch nachdem ich Trish und mir an der Theke Kaffeenachschub und zwei Muffins geholt hatte und mich wieder hinsetzte, musste ich es laut aussprechen. Zumindest ein einziges Mal.

  »Trish?«

  »Hmm?«

  Ich schluckte. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass es das gewesen ist«, sagte ich so schnell, dass ich beinahe über die Silben stolperte. So, als könnte ich sie dadurch ebenso schnell wieder zurücknehmen, wie sie mir über die Lippen gekommen waren. Das hier fühlte sich an, als wäre es vorbei – egal ob Paul sich mir irgendwann doch noch erklären würde. Ich konnte es nicht greifen, weil das kein richtiges Ende war, sondern ein langsames Auflösen. Wie Wasser rann mir unsere Beziehung, die vielleicht nie eine gewesen war, durch die Finger, und ich begann, jeden gemeinsam erlebten Moment infrage zu stellen. Jedes Wort, jeden
Blick und jede Berührung.

  Vielleicht war ich am Ende doch blind und eine von vielen gewesen. Oder es stimmte, was man über solche Extremsituationen wie diesen Unfall sagte: Sobald die Möglichkeit des eigenen Todes nicht mehr in ferner Zukunft zu liegen scheint, beginnt man, das eigene Leben zu durchleuchten, dessen Bedeutung, wichtige Momente und Entscheidungen – das, was wirklich wichtig gewesen ist. Und vielleicht hatte Paul genau in diesen Sekunden mit dem auf ihn zurasenden Wagen die Erkenntnis getroffen, dass ich nicht zu diesen Dingen zählte.

  Trish blickte von ihrem aufgeklappten Laptop auf und mich direkt an, doch sie runzelte nur die Stirn und schwieg zunächst. Wahrscheinlich war ihr selbst klar, dass es nichts gab, das sie hätte sagen können.

  »Wenn das wirklich so sein sollte, dann ist Paul kein Arsch, sondern einfach nur verdammt bescheuert, weil er das Beste wegwirft, was ihm jemals passiert ist!«, sagte sie schließlich völlig ernst und überzeugt. »Mit dir ist dieser Kerl die beste Version seiner selbst, das muss ihm doch klar sein!«

  Der Poetry Slam im Book Nook fand im obersten Stockwerk statt, in der Leseecke hinter den Regalen mit den Fragen des Lebens . Eine Mischung aus warmem Licht und einem aufgeregten Flirren. Die Leute saßen auf den gemütlichen Sitzsäcken, den Ohrensesseln und Stühlen, die extra für diesen Abend in mehreren Reihen aufgestellt worden waren. Kurz bevor das Licht gedimmt wurde, fanden Trish und ich inmitten des leisen Stimmengewirrs einen Platz fast in der ersten Reihe. Nach und nach stand ein Teil der Leute auf, manche geplant, manche spontan. Jeder Text berührte mich auf seine ganz eigene Art. Worte schwirrten durch die Luft, und ihre Poesie hallte tief in mir nach. Traurige Texte, schöne, bewegende und melancholische, kurze und lange. Wie schön es sein musste, wenn man seine Gedanken auf so eine Weise mit anderen teilen konnte.

  Und in diesem Moment war ich mir sicher, dass ich genau das nie wieder mit Paul würde tun können.

  Nachtschwärmer

  3. KAPITE L

  Paul

  Jedes Mal, wenn ich nach Aidens Auftauchen bei mir in der WG eine Vorlesung besucht hatte, war es, als wäre da eine unsichtbare Wand zwischen mir und dem, was um mich herum geschah. Danach war ich in keinen meiner Kurse mehr gegangen, in denen die Worte der Dozenten nur ein Rauschen, die Meldungen der anderen Studenten ein unbedeutendes Hintergrundsummen waren. Und auch als die Ergebnisse der Midterms endlich online waren, empfand ich dabei nichts, obwohl es mich hätte motivieren sollen, weil sie besser als erwartet ausfielen.

  Heute Nachmittag hatte Luke mir geschrieben, ob ich Lust hätte, abends in seiner WG vorbeizuschauen. Ein paar Freunde würden kommen, um Bier-Pong zu spielen und das Wochenende einzuläuten. Ich hatte sofort geantwortet, dass ich am Start wäre, denn Alkohol war genau das, was ich brauchte. Und zwar eine Menge davon.

  »Yeah!«, schrie die beste Freundin seiner Mitbewohnerin, mit der ich zusammen gegen Isaac und ihn spielte. Überschwänglich fiel sie mir um den Hals, als wir die zweite Runde gewannen. Ihre schwarzen, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haare kitzelten mich am Hals, und die Berührung ihrer Hand an meinem Oberarm dauerte einige Sekunden zu lang, um rein zufällig zu sein.

  »Gebt ihr jetzt endlich auf?« Ich grinste.

  »Niemals«, sagte Luke und leerte den letzten roten Becher, in dem ich gerade den Ball versenkt hatte, in einem Zug.

  Isaac nickte zustimmend und warf uns finstere Blicke zu. »Wir spielen noch eine Runde. Und dieses Mal machen wir euch fertig! «

  Irgendjemand drehte die Musik lauter. Sie ließ die Wände unter den kräftigen Beats beben und verschluckte die letzten Worte meines Mitbewohners fast.

  »Versuchen könnt ihr es ja!«, schrie ich gegen die Musik und lachte.

  Tatsächlich schien das Glück zuerst auf der Seite der beiden zu sein. Die Kleine und ich leerten einen Becher nach dem anderen, und auch wenn das Bier schal schmeckte, so tat es doch seinen Zweck. Dann wendete sich das Blatt. Isaac und Luke, die schon vor dem ersten Spiel ordentlich gebechert hatten, schwankten inzwischen gefährlich und warfen mit dem kleinen weißen Ball immer häufiger daneben.

  Die dritte Runde ging am Ende auch an uns. Und schon wieder eine zufällige Berührung, ihre Hand für einen Moment an meiner, begleitet von Lukes anzüglichem Grinsen, als ich einen Arm um ihre Taille legte. Isaac beobachtete uns aus zusammengekniffenen Augen. Er mochte Louisa und fand es mehr als mies, wie ich mich benahm, das hatte er mir genau so gesagt, nachdem ich ihn letzte Woche dazu aufgefordert hatte, sie wieder wegzuschicken. Aber scheiß drauf! Sollte Isaac denken, was er wollte. Er hatte sowieso nicht die geringste Ahnung von meinem Leben!

  Es war, als wäre das Auto mit den blendenden Lichtern an Weihnachten nicht nur aus dem Nichts in meinen Pick-up, sondern auch in mein ohnehin kaputtes Herz gerast. Ein Krachen und es war endgültig auseinandergebrochen. Zurückgeblieben war Gleichgültigkeit und dazwischen doch immer wieder dieses luftabschnürende, stechende Gefühl, weil ich die einzige Frau, die ich gewollt, die ich wirklich gewollt hatte, niemals wieder würde haben können. Schnell schob ich den Gedanken beiseite. Verdammt, ich war hier, um nicht an Louisa zu denken, nicht um meine beschissenen Gedanken erneut endlos um sie kreisen zu lassen.

  Taylor, Landon und zwei weitere Jungs von Goodbye April , die ich alle mit Handschlag begrüßte, lösten uns an der provisorisch aufgebauten Bier-Pong-Platte in der Küche ab. Und als ich mir meine Jacke holte und zum Rauchen auf den Balkon ging, folgte mir das Mädchen so, wie es während des Spiels ihre Blicke aus dunkel geschminkten Augen getan hatten. Wir standen nebeneinander in der Kälte und redeten über irgendwelche Belanglosigkeiten, die ich im nächsten Moment schon wieder vergessen hatte. Gott, sie hatte mit Sicherheit andere Intentionen, als mit mir irgendwelche tiefgründigen Gespräche zu führen!

  Ich tat, als würde ich nicht merken, wie sie meine Nähe suchte. Ihre Schulter an meinem Oberarm, als wir nebeneinanderstanden und über die Brüstung auf den Campus sahen, ihre Hand auf meiner Brust, als ich mich umdrehte, um meine Zigarette auszudrücken, ihr Gesicht nah vor meinem, als ich gerade wieder hineingehen wollte. An jedem anderen Ort wäre ich auf diese sichere Nummer eingegangen, hatte es gerade eben sogar noch vorgehabt – doch auf diesem Balkon hatte Louisa mir barfuß und wunderschön, mit meiner Jacke über ihren nackten Schultern, erzählt, dass sie nicht ans Schicksal glauben würde. Hier hatte sie sich mit einem frechen Funkeln in den Augen auf die Zehenspitzen gestellt und mich einfach geküsst. Weil sie der Meinung gewesen war, ich müsse zu Ende bringen, was ich begonnen hatte. Ein Beinahekuss, dann ein richtiger.

  »Es ist okay, wenn du an eine andere denkst«, sagte das Bier-Pong-Mädchen plötzlich leise. »Ich will mich auch einfach nur ablenken und jemanden vergessen.«

  Für einen Moment zuckte ihr Blick in das Innere der Wohnung, wo eine Gruppe Leute auf dem breiten Sofa und dem Boden davor saß. Auf dem Tisch in der Mitte drehte sich eine Flasche zwischen leeren Shotgläsern. Sie sah zu Luke. Seine Mitbewohnerin saß rittlings auf seinem Schoß und hatte die Hände in seinen schwarzen Haaren vergraben, während sie wild mit ihm herumknutschte. Oh Shit! Das war definitiv neu.

  »Ich sag dir Bescheid, wenn ich gehe. Du kannst mitkommen. Zu mir.« Eine flüchtige Berührung ihrer Lippen auf meinem Mund, dann war sie weg. Ein Balkon, ein Mädchen, ein Kuss. Alles gleich und doch so verdammt falsch.

  Eine halbe Stunde und noch eine Runde Bier-Pong später lehnte ich mich mit einem weiteren Bier gegen eine der Wände im Wohnzimmer. Die Luft war stickig und die Musik, die den Raum erzittern ließ, laut. Viel zu laut. Acid Rain von Lorn mit seinen harten Beats und dem extrem kräftigen Bass, der in meiner Brust widerzuhallen schien. Klar, ich liebte Partys, ich liebte all das hier. Aber ich war scheiß fertig von den letzten Tagen, den letzten Wochen. Mir war bewusst, dass ich wahnsinnig viel Schlaf nachzuholen hatte, dass ich mich erholen sollte – das war immerhin die Bedingung der Ärzte für meine Entlassung gewesen. Aber ich kam nicht zur Ruhe, fühlte mich von Tag zu Tag getriebener, mehr noch als in meinem Leben vor ihr .

  In Gedanken zog ich mein Handy aus der Hosentasche, starrte minutenlang auf eine der letzten Na
chrichten, die Louisa mir geschrieben hatte. In der Nacht, bevor sie so überraschend vor meiner Tür gestanden hatte. Und das beständige Wummern der Musik trat immer weiter in den Hintergrund, die Gespräche und das Gelächter, welches zusammen mit dem Geruch von Gras durch Lukes Wohnung wehten. Jemand rief mehrmals meinen Namen, doch ich reagierte nicht. Schon wieder diese nicht sichtbare Trennwand zwischen mir und der Welt. Und ich fragte mich, wie es möglich war, dass das Leben von einem Moment auf den anderen exakt gleich und doch völlig anders sein konnte.

  Nächte sind unser Ding …

  Ich legte den Kopf in den Nacken und trank die halbe Flasche auf einmal. Ich wünschte, mein Handy wäre nach dem Unfall genauso kaputt gewesen wie mein Pick-up. Um ihn reparieren zu lassen, hätte ich deutlich mehr Geld investieren müssen, als mich der Kauf eines anderen gebrauchten Wagens kosten würde. Doch dafür müsste ich noch eine halbe Ewigkeit sparen. Ich hatte also vorerst kein Auto mehr, leider aber noch mein Handy .

  Ich quälte mich schon die ganze Woche selbst, versuchte Louisa zwar zu vergessen, verlor mich gleichzeitig aber in all den Worten, die sie mir in den letzten Monaten geschrieben hatte. Weil bei diesem Mädchen sogar die meisten schnell getippten Nachrichten irgendwie besonders waren, weil sie ungefiltert genau das schrieb, was sie dachte, so wenig wie möglich, so viel wie nötig – weil Wörter und Sätze ihr Zauber waren und immer etwas in ihnen mitschwang. Gott, und genau deshalb gab es da diese Sekunden, in denen ich vergaß, dass Louisa und das Mädchen aus dem anderen Auto ein und dieselbe Person waren – doch jedes Mal, wenn dieses Wissen mich wieder mit aller Härte traf, wurde das schwarze Loch in mir größer.

  Nächte sind unser Ding …

  Genau das hatte Louisa am Lake Superior zu mir gesagt, bevor sie sich auf meinen Schoß gesetzt und sich von mir hatte küssen lassen. Nächte sind unser Ding bedeutete in Louisas Sprache Ich vermisse dich und Ich vermisse uns . Ich hätte ihre Nachrichten längst löschen sollen. Zu groß war der Drang, ihr zu sagen, dass ich mich mindestens genauso nach ihr sehnte wie sie nach mir. Nachtschwärmer würde ich schreiben, eines meiner liebsten deutschen Wörter. Nachtschwärmer, weil wir das waren, wenn wir zusammen waren.